Lüsternheit im Neonlicht
Ein wenig eigenartig fühlt es sich an, wenn man einen Menschen wie Wolfgang Flür ganz aus der Nähe sehen kann. Vor allem, wenn ‚ganz aus der Nähe’ dabei nicht 50 Meter bedeutet, sondern 5 Meter.
Die kleine Bühne bei der Luminale in Mainz ist für die ‚Performance’, wie es im Programmheft heißt, vorbereitet. Was man sich darunter vorstellen kann, ist sehr dehnbar. Bestückt ist die Bühne schließlich mit einem Stehpult nebst Leselampe, einem Sessel und einem Kleiderständer, an dem ein Mantel hängt.
Wolfgang Flür betritt mit Einbruch der Dämmerung entspannt die Bühne, schwarzes Sakko, schwarzer Rollkragenpullover. Nicht mehr ganz jung sieht er aus, aber auch nicht alt. Er richtet einige joviale Worte ans Publikum. Alle sind nur seinetwegen gekommen, das weiß er.
Zunächst wird eine Dokumentation des niederländischen Senders VPRO gezeigt, in der u.a. alte Aufnahmen aus den 70ern zu sehen sind. Kraftwerk in New York, Flür heute – und nicht zuletzt Detroit-Ikone Blake Baxter, der im TdF-Trikot andächtig ein Video von „Tanzmusik“ ansieht – Florian Schneider spielt Querflöte, Wolfgang Flür klöppelt auf ‚Kochplatten’ mit Alufolienmantel herum. Ex-Drummer Flür sitzt derweil still auf dem Bühnensessel, erläutert nach dem Film einige Begebenheiten aus der Vergangenheit, liest einige Kapitel aus seinem Buch „Ich war ein Roboter“.
Es geht eine gewisse Zerrissenheit damit einher. Auf die Leinwand hat Flür trotzig ein Yamo-Logo werfen lassen. Auch am Revers prangt deutlich sichtbar das Signum seines neuen Projekts. Und doch ist einfach nicht wegzuleugnen, daß Flür alle Aufmerksamkeit dem Mythos Kraftwerk verdankt. Er hat sein altes ‚Wolfgang’-Neonschild mitgebracht. Und immer wenn er es am Pult anknipst, stellt er damit die Verbindung zur Vergangenheit her. Alles was er ist, wird mit Kraftwerk assoziiert – doch mußte er den Vertrieb seines Buchs vor Gericht gegen Ralf & Florian erstreiten. Eine Scheidung im Unfrieden.
Musik von Yamo gibt es auch – aus der Konserve, begleitet von einer Tanzperformance. Dreimal insgesamt betritt Cindy Gunawan die Bühne und setzt die Klänge in Bewegung um. Zunächst in einem glänzenden Lackoverall, später zunehmend spärlicher begleitet, bis sie zuletzt von Flür in den bereithängenden Mantel gehüllt wird. „Wirkt auf mich wie ein lüsterner alter Mann“, entfährt es meiner Begleitung. In der Tat kann man sich dieses Eindrucks nicht erwehren, wenn Flür der Tanzinterpretation fußwippend beiwohnt und den Blick keine Sekunde abwendet.
Leider bleibt auch festzuhalten, daß die Yamo-Stücke zwar maximal zehn Jahre alt sind („Time pie“ erschien 1997), teilweise sogar brandneu, aber dennoch überholt klingen, während Kraftwerk kaum an Aktualität eingebüßt haben.
Ein weiterer Filmbericht aus den letzten Arbeiten im legendären Studio von Conny Plank schließt sich an. In der Pause flimmert eine Flür-Fotoshow über den Projektor, bevor einige Kurzgeschichten aus einem neuen Buchprojekt („Neben mir“) vorgetragen werden.
Leider ziehen diese Geschichten etliche Mundwinkel nach unten, was nicht nur als der barocken, mitunter schwerfälligen Prosa liegt. Flür erzählt ausschweifend von ersten sexuellen Erfahrungen und in die Kniekehlen gerutschten Schlafanzughosen. Passagen über ‚Gefummel mit den Brüdern’ und der ‚großen Schwester’ tragen auch eher zur Verwirrung denn zur Erhellung bei. Die Gesichter werden lang und länger. Meine Begleitung bringt es schließlich auf den Punkt: „Das sind Geschichten, die ich von einem solchen Herrn nicht hören will“. Das wollte vermutlich niemand an diesem Abend. Der höfliche Applaus verklingt.
Niels 23 - 1. Mai, 21:34